Der letzte Schrems
Was es heißt, wenn der Mensch unbemerkt auf sich selbst sitzt ...
Kommt Ihnen dieses Gefühl vertraut vor?
Sie stehen die längste Zeit neben sich und merken es nicht mal. Alle anderen natürlich schon. Weil Sie schleichend ein anderer geworden sind. Nicht immer zu Ihrem Besten. Indes, ebenso schlimm – glauben Sie mir – ist es, die längste Zeit auf sich zu stehen. Oder besser gesagt: auf sich zu sitzen – und ebenfalls keinerlei Notiz davon zu nehmen.
Auf sich sitzen? – Geht das denn?
Oh ja. Wie nix. Stellen Sie sich folgendes vor (ohne dass es zu 100 Prozent wahr sein muss, jedoch zu 100 Prozent wahr sein kann):
Sie verbringen 13 Jahre im idyllischen Salzburg, leben dort in der leicht musealen Landeshauptstadt, an deren (ebenso leicht) musealen wie verschrobenen Eingeborenen schon ein Thomas Bernhard sich in so unnachahmlich eleganter wie abgefeimter Weise literarisch aufgerieben hat.
Sie rasen dort – weil blutjung und Journalist – wie ein Berserker mit Kamera und Notizblock jahrein jahraus quer durchs Land (manchmal gerüchteweise mit einer beinahe legalen Kojak-Drehleuchte auf dem Autodach usw.), verschleißen dabei fast mehr Autos als Reifensätze, haben 13 Wohnadressen, verbringen in Summe mehrere Lebensmonate auf diversen Polizei- und Gendarmerie-Dienststellen – und bedrohen gerade solcherart die Existenz Ihrer Leber auf nicht unerhebliche Weise.
Ja, und dann der Moment der Einkehr …

… denn Sie haben es satt, immer nur dem Unglück der Menschen hinterher zu laufen und daraus auch noch einen fetten Profit zu ziehen, den Sie ohnehin gleich wieder ins nächste Wirtshaus tragen müssen. Schließlich will so viel Unglück aus dem Bewusstsein fortgespült werden, um es sich im Unterbewusstsein gemütlich zu machen. Immerhin haben Sie inzwischen mehr Leid und Elend gesehen, als auf die berühmte Kuhhaut geht, mehr, als Sie in Ihren folgenden drei Leben verdauen können. Nicht einmal als Robo-Ameise. Also beschließen Sie, neben einer durchschnittlichen 70-Stunden-Woche Anglistik und Romanistik (Spanisch) zu studieren. Weil eine innere Stimme Ihnen zuflüstert: „Willst du die Arbeit als Journalist, diese Arbeit als Journalist überleben, brauchst du einen geistigen Ausgleich.“ Das klappt natürlich nur bedingt. Nicht das mit dem geistigen Ausgleich. Das mit dem Überleben. Ja, doch dann ist Ihnen das Schicksal nicht zum ersten Mal durch eine radikale Wende gewogen (solch Schützenhilfe in ihrer ganzen Dimension zu begreifen, dauert in der Regel sehr viel länger, als die unmittelbare Wirkung einer glücklichen Fügung anzuhalten scheint). Es ist, wie es ist. Diese schicksalhafte Fügung ist nicht bloß einer der schwärzesten Momente in der österreichischen Nachkriegsgeschichte, sondern bewirkt wie nebenher, dass man andernorts auf Sie aufmerksam wird. Man schmeichelt Ihnen, hat Größeres mit Ihnen im Sinn. Also erliegen Sie der Faszination und fassen aufs Neue einen Entschluss, der Ihr kleines Leben mit ähnlich dramatischem Nachhall auf den Kopf stellt wie seinerzeit, vor mehr als 1400 Jahren, die Zweite Lautverschiebung die deutsche Sprache:
Sie wandern aus. In den fernen Osten.
Weil es ohnehin genug ist. Weil Sie es nicht länger ertragen wollen, nein, ertragen können, unter einem latent kleingeistigen Chefredakteur zu dienen, dessen ebenso kleiner Wuchs sich verkehrt proportional zum Auswuchs seiner Psychopathie verhält. Sie wandern fort, weil Ihr probates Betäubungsmittel gegen diesen selbst ernannten GRÖBLAZ (Größter Blattmacher Aller Zeiten) nicht länger Wirkung zeigt. Wie dieses Mittel funktioniert (hat), fragen Sie? Ganz einfach: Sie stellen sich die persona non grata splitternackt beim Rammeln vor. Wie Hase oder Kaninchen im Käfig. Das ist im selben Maße lustig wie psycho-hygienisch effektiv. Irgendwann jedoch verpufft auch die Wirkung des stärksten Sedativums – und alles immer bloß wegsaufen ist auch keine Option. Oder wie die Gerichtsmediziner sagen: auch keine Obduktion. Also räumen Sie das Feld, springen hinab von der uneinnehmbaren Bastion des jeden Schrecken bezwingenden Humors (nicht umsonst fürchten die übelsten Diktatoren und ihre Schergen nichts mehr als den sie schallend verlachenden Widerstand) – und wandern ab in Richtung der großen Stadt. Verlockend ist auch diese Aussicht: Über Nacht werden Sie in der Ferne des Ostens in gewissen Belangen sogar so etwas wie der neue Chef Ihres alten Chefs. Rache ist Blutwurst, oder? Hätten Sie diese Option/Obduktion ausgeschlagen? Sei es, wie es sei … und so entlädt dieser Mensch, der die längste Zeit auf sich selbst gesessen ist, ohne es zu bemerken, eines Tages im fernen Osten im vielleicht etwas flach geratenen, doch alles in allem wunderschön weinträchtigen Nordburgenland sein Übersiedlungsgut. Und er denkt dabei noch: Du meine Güte … mit einem kleinen Koffer bist du einst ausgezogen, vom Osten in den Westen … und mit einem riesigen Lastwagen voll bis obenhin kehrst du wieder. Und was entdeckt dieser Mensch da? Beim Entladen des Lastwagens? Nach all den Jahren?
Erstmals fällt sein Blick bewusst auf die Unterseite der Gartenmöbel (Teak), die er irgendwann einmal erstanden und natürlich mitgebracht hat. Teile, auf denen er seinen Popo jahrelang hin und her gewetzt und in Feierlaune bisweilen auch gestanden hat. Ja, was steht denn da, leicht vergilbt, doch immer noch gut lesbar?
Gartenmöbel Schrems
Noch so ein Schrems also. Nicht den blassen Schimmer hatte er davon gehabt. Ach, hätte er das bloß früher gewusst, dann … ja, was dann?
Andererseits … sinnfälliger könnte eine Geschichte von Fortgang und Aufstieg, vom Sich-selbst-im-Weg-Sitzen bis zu Wiederkehr & Niedergang, Erlösung & Auferstehung gar nicht ablaufen. Wobei … vom Blick auf den Hersteller der Gartenmöbel bis zur abermaligen Radikalwende hin zur Literatur etc. ist auch noch ein Stück des Weges zu gehen. Eines, das zeitlich exakt gleich lang verläuft wie das soeben beschriebene. 13 Jahre hüben, 13 Jahre drüben. Gut möglich, dass davon eines gar nicht fernen Tages zwischen zwei Buchdeckeln zu lesen sein wird.
Aber das ist eine andere … nein, wie heißt es so schön: Der Rest ist Geschichte. Oder wie schon Shakespeare seinen Hamlet in diesen letzten Worten den Geist aushauchen lässt:
„Der Rest ist Schweigen.“
Ja, so könnte es sich tatsächlich zu 100 Prozent zugetragen haben. Wiewohl das Gegenteil auch immer wahr und gefällig zu sein scheint. Nicht umsonst sagt der Italiener:
Se non è vero, è ben trovato.